Wie die EU ihre Wettbewerbsfähigkeit in der Digitalwirtschaft sichern will und wie ein Forschungsprojekt hilft, den Überblick über Digitalrechtsakte zu behalten
Die EU hat mit der DSGVO, dem Artificial Intelligence Act (AI Act), dem Digital Services Act (DSA), dem Data Act und vielen anderen Verordnungen und Richtlinien starke rechtliche Rahmenbedingungen für die Digitalisierung gesetzt. Die EU wird in diesem Zusammenhang oft als globale Reguliererin bezeichnet, da sich auch andere Staaten weit über ihre Grenzen hinaus ihren Rechtsrahmen zu eigen gemacht haben (so das Konzept des „Brussels Effect“). Doch Staaten wie die USA und China setzen insbesondere im Bereich des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz (KI) andere Maßstäbe.
Denn der Bürokratie und Regulierung wird derzeit, teilweise mit theatralisch erhobener Kettensäge, jüngst vermehrt beispielsweise durch Elon Musk mit der „Effizienzbehörde“ Doge in den USA der Kampf angesagt. Auch der Vizepräsident der USA, J. D. Vance, fand im Rahmen des AI Action Summit in Paris harsche Worte gegenüber dem europäischen Regulierungsansatz, darunter: „[…] we believe that excessive regulation of the AI sector could kill a transformative industry just as it’s taking off […] The U.S. innovators of all sizes already know what it’s like to deal with onerous international rules. Many of our most productive tech companies are forced to deal with the EU’s Digital Services Act and the massive regulations it created […] Meanwhile, for smaller firms, navigating the GDPR means paying endless legal compliance costs or otherwise risking massive fines.“
Bereits zuvor hatte Präsident Trump kurz nach Amtsantritt per Executive Orders große Teile der amerikanischen Regulierung von KI zurückgenommen, um „Barrieren für Innovation“ zu beseitigen. Diese jüngsten Ereignisse befeuerten erneut die seit jeher schwelende Debatte um Regulierung vs. Innovation. Verkörpert wird diese Sichtweise im viel zitierten Spruch „The US innovates, China replicates, and Europe regulates.“
Wenn Fortschritt zur Gefahr wird
Innovation bringt fraglos Vorteile, das Narrativ „Innovation um jeden Preis“ sollte jedoch kritisch hinterfragt werden. Denn das bloße Streben nach Innovation kann gefährlich sein, wenn sie nicht von ethischen Überlegungen, fairen Rahmenbedingungen und Transparenz begleitet wird. Solche unreflektierten Innovationsbestrebungen können etwa zur Entwicklung schädlicher KI, Verstößen gegen Datenschutz und Privatsphäre oder dem Missbrauch konzentrierter Marktmacht führen, was letztlich das Vertrauen der Verbraucher*innen und die Wettbewerbsfähigkeit gefährdet.
Beispielhaft genannt werden können jüngst durch Whistleblower bekannt gewordene, schwere Vorwürfe in Zusammenhang mit Zugriffen auf sensible Daten durch Doge; die Schaffung eines übergreifenden „Autismus“-Registers unter massiver Sammlung von Gesundheitsdaten; die Beobachtung, dass Internetplattformen als Raum für zunehmende Radikalisierung missbraucht werden, politische Zensur von großen Sprachmodellen oder Überwachung von Bürger:innen durch ein „Sozialkreditsystem“.
Das europäische Datenschutzrecht, das überschießende Datensammlungen unterbindet, und der DSA, der u. a. die Bekämpfung rechtswidriger Inhalte auf sozialen Medien verlangt, stützen somit, wenn auch indirekt, die Bewahrung einer offenen Gesellschaft, individueller Grundrechte und einer pluralistischen Demokratie.
In den Bereichen KI und Datenökonomie sind klare Regelungen von entscheidender Bedeutung, um das Vertrauen in Technologien zu fördern. Sie gewährleisten Planbarkeit und Rechtssicherheit, was die Innovationskraft von Unternehmen fördert. Die Auswirkungen fehlender Planbarkeit zeigten sich beispielsweise an der Reaktion der Aktienmärkte auf die Zollpolitik von Präsident Trump.
Eine gut durchdachte Regulierung kann Europa als attraktiven Standort für verantwortungsvolle digitale Innovationen positionieren und somit langfristig die Wettbewerbsfähigkeit unterstützen. So liegt eine Stärke der EU auch aus internationaler Sicht in ihrer Rolle und Expertise als Reguliererin.
Das Narrativ der Überregulierung
Bei aller berechtigter Kritik an schwer zu durchdringender Regulierung scheint häufig die Wahrnehmung europäischer Rechtsakte verzerrt zu sein. So sind Auswirkungen und Pflichten häufig reduzierter als medial wahrgenommen. Beispielhaft lässt sich der AI Act heranziehen, der im Gegensatz zu vielen öffentlichen Berichten für 90 Prozent aller KI-Systeme keine (strikte) Regulierung vorsieht. Auch die Anforderungen an Hochrisiko-KI-Systeme basieren großteils auf branchenüblichen Best-Practices (bspw. zur Anfertigung einer Dokumentation), die vor allem durch Standards konkretisiert werden. Diese werden wiederum nicht von Bürokrat:innen im stillen Kämmerchen erdacht, sondern deren Entwicklung maßgeblich von KI-Unternehmen gesteuert. Das einfache Narrativ einer erdrückenden Regulierung basiert dabei zum Teil auf strategischem Lobbying.
Als weiteres Beispiel kann der Data Act genannt werden. Dieser könnte sich als Meilenstein auf dem Weg zu einer gerechteren Datenwirtschaft erweisen. Bisher dominieren einige wenige sehr große Unternehmen den Zugang zu Daten und das behindert Innovation in Europa. Der Data Act hat das Potenzial, diesen Markt zu öffnen, indem er Regeln für den Zugang zu Daten von vernetzten Produkten (im sogenannten Internet der Dinge) schafft. Davon profitieren kleine und mittelständische Unternehmen (KMUs), die Dienste am Folgemarkt entwickeln und anbieten können. Auch der Wechsel von einem Cloud-Dienste-Anbieter zu einem anderen wird konkret im Data Act adressiert und erleichtert.
Die europäische Wende hin zur Deregulierung
Dennoch macht die Tendenz zur Deregulierung auch vor der EU nicht halt. So wurde jüngst der Vorschlag für die Richtlinie zur Reform der außervertraglichen Haftung in Hinblick auf KI zurückgezogen. Generell ist Deregulierung ein Kernpunkt der Agenda der zweiten Von-der-Leyen-Kommission. Dies signalisiert eine Abkehr vom bisher verfolgten Regulierungsansatz, wie sie bspw. auch im Draghi-Report über die Wettbewerbsfähigkeit der EU gefordert wurde. Über eine mögliche Novellierung der DSGVO, die lange Zeit als unantastbar galt, wurde zuletzt in diesem Blogbeitrag berichtet.
Auf der anderen Seite wird durch Expertinnen und Experten davor gewarnt, die „Sonderstellung“ der EU in dieser Hinsicht aufzugeben und den amerikanischen Ansatz unkritisch zu übernehmen und damit die Vorteile des europäischen Ansatzes aufzugeben.
Empirie der (De-)Regulierung
Denn die Innovationsmacht der USA scheint nicht in ihrer Laissez-faire-Haltung zur Regulierung begründet. So hat eine Studie kürzlich herausgefunden, dass die Technologiebranche in den USA historisch betrachtet nicht deswegen so erfolgreich ist, weil sie traditionell weniger reguliert wird. Vielmehr ist es eine Vielzahl an Faktoren, auf welche die positiven Entwicklungen zurückzuführen sind: unter anderem leistungsfähige Kapitalmärkte, eine risikofreudige Unternehmenskultur, der Zugang zu vielfältigen Talenten (auch durch Immigration) und – ein ganz wesentlicher Unterschied zur EU – ein großer, einheitlicher Binnenmarkt ohne Fragmentierung in unterschiedliche Sprachen, Kulturen und Gesetze. Die Studie kam zum Ergebnis, dass die USA vermutlich selbst dann ihre Innovationskraft behalten würden, wenn dort ein ähnlich strenger Rechtsrahmen in Bezug auf Datenschutz oder KI-Regulierung wie in der EU gelten würde.
Die technische Abhängigkeit der EU
Weiters steht die EU derzeit vor der Herausforderung, in Hinblick auf die vielfältige bestehende Abhängigkeit von US-Technologien ihre digitale Souveränität zu stärken. Diese Abhängigkeit bringt die EU in eine unbequeme Position. So wird beispielsweise die Kommission hinsichtlich DSA und dem AI Act unter Druck gesetzt. Im Februar 2025 erließ die US-Regierung ein Memorandum zum Schutz amerikanischer Technologieunternehmen vor „Ausbeutung“ durch ausländische Regierungen. Darin wird klargestellt, dass Gegenschritte wie Zölle geprüft würden, um „digitale Steuern, Geldstrafen, Praktiken und Richtlinien“ ausländischer Regierungen zu bekämpfen, welche US-Firmen belasten. Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen die kürzlich verhängten Strafen gegen die US-Konzerne Meta und Apple aufgrund des DMA haben werden.
Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Entwicklungen, insbesondere auch der laufenden Handelskonflikte, gewinnt der Fokus auf europäische technologische Lösungen, die durchaus existieren, zunehmend an Bedeutung. Regulierung kann dabei notwendige Anreize setzen, die europäische Souveränität zu stärken und die Abhängigkeit zu beenden.
Vernachlässigung von Förderungen und Subventionen
Sinnvolle Regulierung ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Vernachlässigt werden dabei als Gegenstück häufig Subventionen und Investitionen, sowie Anreize und Erleichterungen für KMUs, um Innovation zu fördern. Ein Schritt in die richtige Richtung könnten bspw. die sogenannten „KI-Fabriken“ darstellen, die in der EU derzeit implementiert werden. Auch in Wien wird mit einem Fördervolumen von ca. 40 Millionen Euro eine solche KI-Fabrik eingerichtet. Von der Unterstützung durch eine solche KI-Fabrik durch Beratung, Vernetzung und Zugang zu einem Supercomputer sollen unter anderem Start-ups und KMUs profitieren. Der AI Continent Action Plan der EU sieht weitere massive Förderungen in der Höhe von 200 Milliarden Euro vor.
Einfacherer Zugang zum Recht
Trotz ihrer aufgezeigten Daseinsberechtigung ist das Zusammenspiel zwischen den zahlreichen Digitalisierungsrechtsakten komplex und bereitet mitunter Kopfzerbrechen. Dies wurde bspw. zum Anlass für ein Forschungsprojekt genommen und mit ATLAWS eine frei verfügbare Plattform geschaffen, die einen raschen, komprimierten und fundierten Überblick über die jüngsten EU-Digitalrechtsakte bietet.
Dabei werden nicht nur grundlegende Fragen zur Anwendbarkeit und zu drohenden Konsequenzen bei Nichtbeachtung der einzelnen Rechtsakte beantwortet, sondern auch die Einbettung in die übergeordneten Strategien der EU dargestellt. Ganz wesentlich ist die vernetzte Darstellung der jeweiligen Rechtsakte miteinander. Damit wird das viel zitierte „Big Picture“ gezeigt und veranschaulicht, dass Regulierung nicht seiner selbst wegen erfolgt.
Innovation und Regulierung: Kein Widerspruch
Es zeigt sich also, wie vielschichtig die Debatte ist. Sie kann nicht auf einen Kampf von Innovation vs. Regulierung reduziert werden. Schlussendlich sollte die digitale Transformation nicht als Ziel um ihrer selbst willen verstanden werden, sondern als Gestaltungsspielraum: eine Chance, europäische Grundwerte wie den Schutz der Grund- und Freiheitsrechte, Demokratie und ökologische Verantwortung in einer menschenzentrierten Digitalisierung zu verankern. Denn sowohl unreflektierte Regulierung und Bürokratisierung als auch ungezielte Deregulierung können zur Verunsicherung und Rechtsunsicherheit führen.
Statt Innovation um jeden Preis zu verfolgen, liegt die Herausforderung somit darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, die technologische Entwicklung ermöglichen, ohne ihre gesellschaftlichen und ethischen Folgen aus dem Blick zu verlieren. Dabei braucht es auch Subventionen und Förderung, um Innovation zu begünstigen. Gerade hierin kann Europas Ansatz – zwischen Regulierung und Deregulierung, zwischen Grundrechtsschutz und Fortschritt – (weiterhin) ein global überzeugendes Vorbild sein. (David M. Schneeberger, Mirjam Tercero, 14.5.2025)
Hinweis
Dieser Beitrag wurde als Blogpost im Blog: Digital Human Rights auf derstandard.at publiziert.
Autorinnen
Dr.in Mirjam Tercero ist Senior Researcher und Senior Consultant am Research Institute – Digital Human Rights Center.
Dr. David Michael Schneeberger, BA BA MA ist Senior Researcher und Senior Consultant am Research Institute – Digital Human Rights Center.